DIE VERERBUNG

Dab das Zuchten edler Rassetauben eher eine schwierige Aufgabe als ein leichtes Unterfangen ist, bestatigt sich schon allein, wenn wir die Entwicklung irgendeiner Rasse in Augenschein nehmen.Viele Zuchtergenerationen alte Rassen, seit hundert Jahren und noch langer auf der Bildflache, bewegen sich immer noch auf dem muhevollen Weg zum Ideal. Mit dem zuchterischen Fortschritt ergeben sich jeweils wiederum neue zuchterische Anspruche mit bestimmten weiteren Zielsetzungen Uzugleich ein sicheres Zeichen, dab sich der Zuchtstand dennoch verandert, sich nach den Standardforderungen qualitativ verbessern labt.
Zuchten ist gleich Umformen, Verandern, Verbessern, Vervollkommnen. Nicht umsonst heiUt es im Sprachgebrauch der Rassegeflugelzuchter: "Zuchten ist eine Kunst. Die Kunst des Zuchtens liegt in der Vollendung." Hunderte, ja tausende von Jahren vor Bekanntwerden der Vererbungsgesetzmabigkeiten schufen sich die Menschen Hausrassen, indem sie die Felsentaube, Columba livia, domestizierten. Die Standorttreue dieser Stammutter aller Haustaubenrassen ausnutzend, holten sie sich das fluggewandte Federwild in ihre Siedlungen. Mit der Haltung als Fleischlieferant kam schlieUlich auch das Bedurfnis, es in zuchterischer Hinsicht so zu gestalten, wie es ihnen die Natur in Form von Mutationen ermoglichte. So treffen wir z. B. mit den Damascenern eine uralte Rasse an, an der sich schon seit etwa tausend Jahren vor Christus die Menschen erfreuen.
Im Laufe unzahliger Jahre entstand, regional und territorial vollig unabhangig wie auch durch gelegentlichen Austausch, in den Kulturzentren der Welt eine grobartige Rassenvielfalt. Zielstrebiges Zuchten, das Verandern der Formen, Mischen von Farben sowie das Auspragen von Strukturen fuUte auf bewahrten Mitteilungen aus berufenem Munde durch Weitersagen. Die Resultate aus Beobachtungen, Feststellungen sowie gezeigten Ergebnissen bildeten den geistigen Grundstock fur solide Zuchtarbeit in bescheidenem Mabe.
Mendel veroffentlichte seine grundlegenden Forschungsergebnisse uber die wissenschaftliche Systematik der Vererbungsgesetze zwar schon 1865, die zu jener Zeit aber kaum Beachtung fanden, bis sie erst 1900 wiederentdeckt und publiziert wurden. Durch Kenntnis der Mendelschen UniformitatsU, SpaltungsU und Unabhangigkeitsregeln sowie unter Anwendung bewuUter Selektion und der Methoden von ReinU, InU und Linienzucht konnten die Zuchter immense Fortschritte im gesamten Zuchtverfahren erlangen.
Gerade das Vererbungsgeschehen ist ein derart vielschichtiges Thema, dab an anderer Stelle auf spezielle Literatur hingewiesen werden mub. Intensives Studium ist vonnoten, diesen Lehrstoff mit praktischen Erfahrungen in der Zucht zweckmabig zu verbinden. Das gesamte Spektrum der Vererbungsvorgange wird sowohl im negativen als auch im positiven Sinne von Umwelteinflussen mitgelenkt und durchaus auch vom Zufall beeintrachtigt.
Beim Zusammenstellen der Zuchtpaare wird sich der erfahrene Zuchter grundsatzlich nicht immer nach dem Erscheinungsbild beider Geschlechter orientieren. Vielmehr kann er Tieren nach ihren Anlagen den Vorzug einraumen, die sich unter bestimmten Umstanden bereits als "vererbungsfest" erwiesen haben. In diesem Sinne unterscheidet man den Phanotyp (Erscheinungsbild) eines Tieres von seinem Genotyp (Gesamtbild der genetischen Information). Verspricht sich der Zuchter von JJiem in die Zucht eingestellten Tier, das ihm allein vom Phanotyp her bekannt ist, fur sein Vorankommen bei der Verbesserung bislang vernachlassigter Merkmale hggunstigende Ergebnisse, wird er es im Falle ausbleibenden Erfolgs als sogenannb "Blender" bezeichnen. Deshalb sind nicht quasi automatisch auf Anhieb deutliUgiig Fortschritte zu garantieren, wie auch hochstbewertete Einzeltiere, zu einem ^uchtpaar zusammengestellt, bekanntlich kaum an ihr Qualitatsniveau reichende Nachzucht erwarten lassen. hingegen wird sich ein Tier, dessen Genotyp sich bereits in der Zucht bewahrt hat, unter gegebenen Voraussetzungen selbst bei einer Neueinstellung in die Zucht weiterhin bestatigen. Wichtig beim Zusammenstellen der Paare ist die erfahrene Kenntnis uber die gefestigten Anlagen des herkommlichen Stammes sowie das Erkennen elementarer Vorzuge im Erscheinungsbild. Sollen Rassemerkmale wie Form, Schnabelsitz, Standhohe und dergleichen das standardgerechte Qualitatsverlangen erreichen konnen, durfen Elterntiere nicht mit gleichen Fehlern behaftet sein, also nie zusammengepaart werden. Vorteile zu erfolgreichem Zuchten liegen erfahrungsgemab in der Inzucht begrundet, wobei die Verpaarung der Eltern mit Sohn bzw. Tochter am haufigsten und erfolgversprechendsten angewendet wird. Unter gewissen Umstanden bestatigt eine direkte Geschwisterverpaarung nicht immer in Aussicht gestellte Hoffnungen auf Erfolg.
Wie bei allen Vorhaben, haben auch fur das Gelingen der Rassetaubenzucht die Gotter den Schweib vor den Erfolg gesetzt. Spitzenzuchter verlassen sich aus diesem Grunde, resultierend aus Erwartung und faktisch Erreichtem, einerseits auf ihre Geduld und andererseits wiederum auf ihr sogenanntes "Fingerspitzengefuhl". Zweifelsfrei steht die Zuchtarbeit genauso unter dem Motto: "Probieren geht uber Studieren", weil sich viele Praktiker im voraus fur Probepaarungen entscheiden. Sie stellen bereits im Spatsommer oder Herbst geschlechtsreife Tiere zusammen, damit sie bis zur Hauptzuchtsaison des folgenden Jahres erfahren, inwieweit mit qualitativ einwandfreier Nachzucht gerechnet werden kann.
Jeder Zuchter wird sich davon leiten lassen mussen, dab ihm zum Experimentieren, zum Ausbeuten vorhandener Anlagen, zum beabsichtigten Ubertragen derselben an die Nachkommenschaft lediglich ein Zuchtpaar zur Verfugung steht, das noch dazu nur eine geringe Anzahl ausnutzbarer Moglichkeiten anbietet: einige Gelege mit jeweils nur zwei Eiern. Bei vier Bruten wahrend einer Zuchtperiode und acht im Optimalfall zu erwartenden Zoglingen ist demnach, verglichen mit den Moglichkeiten in der Rassehuhnerzucht, denkbar wenig Spielraum zur Beweisfuhrung der von Mendel aufgestellten Gesetzmabigkeiten gegeben. Bei der Vielzahl von Erbsen, an der Mendel forschen konnte, war der Nachweis fur die Berechtigung seiner Erbgesetze uberhaupt erst zu veranschaulichen. Der kommt die Rassehuhnerzucht durch die Moglichkeit kunstlicher Brut und Aufzucht dieser Nestfluchter jedenfalls erheblich naher als unsere Taubenzucht mit ihrer vergleichsweise durftigen Reproduktionsrate. Ein wesentlicher Faktor innerhalb des Vererbungsgeschehens ist somit zweifellos der Zufall. Betrachten wir die Nachzucht nur eines Jahres, so finden wir nicht allzu viele miUratene Jungtiere, viele mittelmabig gute und ganz wenige hervorragende; absolute Spitzentiere sind die Ausnahme, die dann womoglich, in der Konkurrenz mit anderen Zuchten verglichen, zuweilen sogar noch "untergehen".
Direkte Zufalle unterliegen deshalb Variationsereignissen. Differierende Phanotypen zwischen allernachsten Verwandten werden als "Variabilitaten" bezeichnet. Betrachb ten wir dazu die anscheinend exakt gezeichnete Ahne Felsentaube, so lassen sich auch dort die Individuen deutlich differenzieren. Es ist also keine Eigenheit ihrer domestizierten Nachkommen, nur minimal oder gar auffallig aus dem Rahmen ihres ublichen Erscheinungsbildes zu fallen.

Der reine Zufall wird also standig unser Partner sein. Bei einem Individuum verbessert sich lackreiches Gefieder mit der Gabe von gezielt auserlesenem Spezialfutter gegebenenfalls, beim anderen wiederum nicht, weil eben diese Taube entweder anderen Umwelteinflussen ausgesetzt war oder zum Zeitpunkt der Futtergabe nicht gerade in bester Gesundheitsverfassung ist und diese Sonderration als Erganzung bzw. Stabilisierung des Vitaminhaushaltes benotigt, so dab sie nicht wirksam im Sinne des Zuchters anzuschlagen vermag. Wir mussen davon ausgehen, dab sich in jeder Zucht sowohl positiver als auch negativer Zufall mit einer gewissen Portion Gluck die Waage halten. Gewissermaben sind Gluck und Tragik feste Bestandteile der Vererbungsvorgange, sonst namlich gabe es kein Ringen um die Standardvollendung. Indessen haben zumindest seriose Zuchter nicht ausnahmslos Zufallsprodukte im Schlag, wie es nun den Anschein haben konnte, denn das ware ja unwiderlegbares Argument gegen jede unermudliche Zuchtarbeit mit dem Ziele, den Zuchtstand zu vollenden. Wenn namlich bei rigoroser Selektion nach Zuchtende nur wenige, nach des Zuchters fortschrittlichen Vorstellungen geratene Tauben ubrigbleiben, so hat sich aller Aufwand sicherlich dennoch gelohnt.
Eingebunden in den vorangegangenen Text ist die Erwahnung eines leidigen Vorganges in den Zuchten: die Fremdbefruchtung. Bei im Freiflug gehaltenen Rassetauben weniger anzutreffen, um so haufiger aber bei Volierenhaltung und vornehmlich bei einer Uberbesetzung der Voliere leidet der zuchterische Fortschritt unter solchen standigen, kaum vermeidbaren Unwagbarkeiten. Absolut garantierten Nachweis uber die Abstammung der Jungen hat der Zuchter nur bei Einzelpaarhaltung, wenn die Beteiligung fremder Tauber also durch die Unterbringung in vollig separaten Abteilen ausgeschlossen wird.