DAS VERHALTEN DER TAUBEN
Einem Anfanger in der
Rassetaubenzuchl ware zu empfehlen, dieses Kapitel zuerst zu lesen, weil damit
das Wissen uber die Verhaltensablaufe den Umgang mit dem Taubenvolk
verstandlicher macht: bestimmte Notwenigkeiten beim Aufbau einer Zucht leuchten
ein, wenn sie zunachst auch als fragwurdig galten. Das Vorhaben, eine
Rassetaubenzucht aufzubauen, mub also nicht mit probierenden Versuchen und
nachfolgenden Fehlschlagen begonnen werden.
Der Leser wird feststellen, dab
sich die Rassetaube als Individuum wie ein roter Faden durch den gesamten
Zuchtteil des Buches zieht. Daraus folgert, dab unsere Tiere als solche von
Anbeginn ihres Erdendaseins ebenso individuellen Spursinn vom Pfleger verlangen.
Der Zuchter kommt nicht umhin, sich in die Taubengemeinschaft sehr feinfuhlig
einzugliedern, wenn er seine zuchterischen Vorhaben erfolgreich in die Tat
umsetzen mochte.
Mit nur wenigen Ausnahmen dominiert bei den Taubenrassen
auberlich weitgehende Geschlechterubereinstimmung in allen Formb und
Farbattributen. Damit ahneln sich die Tiere einer Population gleicher Rasse und
Farbe auf den ersten Blick stark, wahrend sie allein fur den Kennerblick sehr
wohl deutlich voneinander zu unterscheiden sind. Diese zumindest optische
Verwechselbarkeit beider Geschlechter erschwert es auch den Individuen selbst,
bei plotzlicher oder erstmaliger Begegnung auf Anhieb zu differenzieren, welchem
Geschlecht das gegenuberstehende Tier angehort. Erst die artspezifischen
Auseinandersetzungen innerhalb einer Taubengruppe lassen das Einzeltier
gewissermaben entsprechende Stellung beziehen. Standiges Beisammensein mit
gewohnten Anblicken, Begegnungen, Drohen, Ausweichen in Konfliktsituationen und
aus der Merkfahigkeit hinsichtlich solcher Erlebnisse resultierende
Verhaltensausrichtung des Einzeltieres ermoglichen erst im Laufe der Zeit das
Akzeptieren und Respektieren der Artgenossen in der zunachst kunterbunt
gemischten Gemeinschaft.
Der anfangliche Wirrwarr ordnet sich bald, wenn
auch die Rangordnung im Taubenschlag noch nicht endgultig ausgemacht ist. Erst
Erfahrung, kraftvolles, imponierendes Gehabe, Wendigkeit und energisches
Durchsetzungsvermogen legen gewissermaben als eine Art Soziogramm eindeutig
fest, welcher Schlaginsasse wem uberlegen bzw. unterstellt ist. Nur die Tauber
teilen den gesamten Schlagraum in Reviere; die Taubinnen sind lediglich
geduldet. Im Kapitel "Sinn und Zweck der Balz" wird der Leser uber die
Geschlechtszuordnung eingehend informiert.
Exponierende Einrichtungen wie
Nistplatze und Sitzgelegenheiten sind am begehrtesten. Es gehort zum Status
ranghoher Mannchen, obere Positionen mit weitem bberblick fur sich in Beschlag
zu nehmen. Das Flugbrett an der Schlagoffnung wird in der Gunst aller Tauber
liegen. Dort herrscht der absolute "Schlagtyrann", wie er haufig bezeichnet
wird, wenn es auf diesem Plateau gelegentlich zu federfliegenden
Auseinandersetzungen kommt. Der auf dem Flugbrett herrschende Tauber erfahrt oft
auch die Bezeichnung "Schlagteufel", weil es sein ausnahmsloses Bestreben ist,
dieses Territorium, sein Revier, nur fur sich in Anspruch zu nehmen und
energisch zu verteidigen.
In Kenntnis dieser sich in jeder Zucht
wiederholenden Vorgange sind die Schlagoffnungen in ihrem Format entsprechend
breiter anstatt schmal und hoch zu konzib pieren. Uberqueren schwachere
Artgenossen das Flugbrett von auben nach innen, wird es somit keinesfalls zum
Spiebrutenlaufen, am Widersacher vorbeizukommen. Meistens reagiert ein solcher
Tyrann ohnehin nur mit einer Drohgeste. Harmonisches Nebeneinander treffen wir
wahrend des Brutens aller Tauber an. Die Taubinnen sind friedfertiger veranlagt:
in Rangordnungskampfe zwischen Taubern greifen sie nicht ein, wahrend sie
allerdings unter sich schon gewisse Machtpositionen festlegen.
Bei der
Uberlegung, Sitzplatze in nach allen Richtungen angemessenen Abstanden
anzuordnen, sind durchaus zu erwartende psychologische Auswirkungen auf die
Tauben berucksichtigt. Rassetauben gehoren zu den sogenannten "Distanztypen" im
Unterschied zu den "Kontakttypen", wie es beispielsweise verschiedene
Prachtfinken sind. Entsprechend gereizter reagieren sie in Augenblicken
unterschrittener Begegnungsdistanz. Die Mabe idealer Abstandsregelung konnen
nach oben oder unten von Temperament und Korpergrobe der Rasse abgeleitet
werden.
Vereinfacht ausgedruckt: Einzelsitzplatze sind an der Schlagwand in
solchen Abstanden anzubringen, dab sich die Tauben gegenseitig nicht belastigen.
Genaugenommen ware es ohnehin nur imaginares, scheinbares Zunahekommen, was die
Tauben in Erregung versetzt, dennoch ist eine instinktgerechte Distanzierung von
Wichtigkeit fur das Wohlbefinden der Tiere.
Der Distanztyp Taube ist
andererseits vom Naturell her darauf bedacht, sich nie von der Gemeinschaft
abzusondern. Als sozial lebendes Wesen sucht sie stets die Gesellschaft ihrer
Artgenossen. Analog zu ihren Vorfahren, den Felsentauben, brutet sie
kolonieweise und schwarmt in Trupps zur Futtersuche aus, ebenso wie sie beim
Feldern und lustvollen Fliegen im Verband auftritt. Innerhalb einer solchen
Fortpflanzungsgemeinschaft regeln angeborene Verhaltensweisen die
gesellschaftliche Integration des Individuums, erhohen beispielsweise Hemmungen
die Uberlebenschancen aller und ordnen somit das Gesamtgefuge. Jedes
Taubenindividuum benotigt fur ein ertragliches Leben einen festen Platz
innerhalb der Population unter Berucksichtigung gewisser freier
Enfaltungsrnoglichkeit. Dieses naturliche Verlangen zu befriedigen, sollte des
Zuchters hochstes Ziel bei der Gestaltung echter "Umweltqualitat" fur seine
Tiere sein.
Die Absicht, Rassetaubenzucht in grobem Stil zu betreiben,
verlangt also ein ausgedehntes Raumu und Platzangebot, denn viele Tauben fordern
beinahe uneingeschrankten AufenthaltsU und Flugraum. In uberbesetzten Schlagen
gedeihen Rassetauben nicht! Dort unterliegen sie den Zwangen der Enge: belastet
durch standige Bedrohung mangels Freiraum leidet das Individuum unter
Dauerstreb. Naturgemabe Arterhaltung ist nur moglich, wenn ausreichend Raum zum
Uberleben, Fliegen, Vermehren und Ernahren zur Verfugung steht. Wahrend der
Futterung labt sich besonders bei grobem Hunger der Tauben beobachten, wie sie
vereinzelt beiderseits die Flugel zur Abschirmung ihres beanspruchten
Futterbedarfes ausbreiten b zuruckzufuhren auf besagtes, wenn auch nur minimales
Distanzverhalten.
Der Standortwechsel einer Taube in einem normal besetzten
Zuchtschlag von drinnen hinaus ins Freie labt sich leicht verfolgen: Sie verlabt
den Schlag, um sich auf dem Dach etc. sofort in die Nachbarschaft eines oder
mehrerer Artgenossen zu begeben. Sie plaziert sich in angemessener Nahe, halt
Ausschau und kann sich, ohne jegliche Gefahr zu laufen, einer Drohgeste zu
begegnen, putzen, sonnen usw. Vereint sich ein Parchen zum Liebesspiel, ist es
ebenfalls in der unbegrenzten Situation, sich aus der Sicht der ubrigen
Taubenschar bringen zu konnen.
Die gleiche Taube verlabt in uberbesetztem
Verlies das Flugbrett aufgrund ihrer Bedrangnis durch Schlaggenossen in geradezu
blindem Flug in die Voliere. Wohin, wenn die Sitzplatze besetzt und die
Laufbretter uberbelegt sind? Sie landet auf dem Boden, tangiert das Revier eines
Rivalen, lauft blindlings umher, fliegt auf und kann sich zwischen zwei
Voliereninsassen niederlassen, wobei sie damit rechnen kann, dab sie entweder
abgewiesen oder geduldet wird. Fur alle Tauben einer solchen Gesellschaft kommt
es zu standigem Auf und Ab: in solcher Enge ergeben sich automatisch
gesundheitsschadigende Zwange. Behaupten wird sich eine solche Taube nur dann,
wenn ihr, sozusagen in ausweglose Bedrangnis geraten, "der Kragen platzt" und
sie "blind vor Wut" rucksichtslos um sich schlagt, um sich Bewegungsfreiheit zu
verschaffen.
In und nach solchen Situationen kann sich spontan die
Rangordnung andern, indem eine rangniedere Taube zumindest bis zur nachsten
Fehde, Oberhand uber bisher ranghohere gewinnt. Derartige Vorkommnisse geben zu
denken und bestatigen Fehler bei der Schlagkonzeption, wenn es einzelne Tauben
vorziehen, auUerhalb des Schlages zu ubernachten oder sich gar vorbeifliegenden
Schwarmen anschlieUen, weil sie keine feste Bindung mehr an den Heimatschlag
besitzen, sondern nur lose dem Verband angehoren.
Als wichtig wurde vorher
die mabgerechte Anordnung der Sitzplatze angesprochen. Der Leser wird nunmehr,
nach Kennenlernen des artspezifischen Taubenverhaltens, begreifen, welch
notwendige Bedeutung dem Abstandhalten beizumessen ist. Sitzen die Tauben
namlich zu nahe beieinander, fuhlt sich jede bedroht. Jede Regung, sei es nun
das Stochern im Gefieder oder das Drehen von einer Seite zur anderen, lost beim
Nachbarn Verteidigungsreaktionen wie Zuhacken, Flugelschlagen oder bei etwas
weiterer Enfernung blob noch ein Drohgebaren aus. Einer moglichst groben Zahl
von Tauben ist in einem Schlag ausreichend Platz mit dem Bereitstellen eines
Sitzregales anzubieten. Zwar steht der Taube relativ wenig Sitzflache zur
Verfugung, dem Einzeltier wird aber in Form vorgezogener Zwischenwande gewisser
optischraumlicher Schutz angeboten. Nur akustisch vernehmen die Nachbarn nunmehr
fur sie andernfalls bedrohliche Aktivitaten wie Korperschutteln, Fub- oder
Flugelstrecken in ihrem beschrankten Revier.